„Ich bin aktiv! – Evaluation eines neuen Schulungsprogramms“
Zusammenfassung
Die Entwicklung und Erprobung des neuen Schulungsprogramms „Ich bin aktiv!“ im Reha-Klinikum Bad Säckingen (RKBS) war ausgelöst worden durch Forschungsergebnisse aus der eigenen Klinik, in denen sich gezeigt hatte, dass fast alle Patientinnen und Patienten (der Einfachheit halber wird die männliche Form im Folgenden auch in ihrer generischen Bedeutung für beide Geschlechter gebraucht.) des RKBS zu Beginn der Reha-Maßnahme sehr hohe Belastungen durch Schmerzen, Funktions-Einschränkungen in Beruf und Alltag sowie psychische Probleme aufwiesen, und – trotz sehr guter Verbesserungen am Ende der Rehabilitation – in einem Zustand entlassen wurden, der immer noch im gravierend auffälligen Bereich der betreffenden Skalen liegt und damit im Grunde eine fortbestehende Reha-Bedürftigkeit signalisiert. Dieser Befund war zwar angesichts der hohen Eingangsbelastungen und der oft langjährig chronifizierten Krankheitsbilder nicht wirklich überraschend, stellte aber doch eindringlich die Frage nach einer Fortsetzung des Rehabilitationsprozesses in der alltäglichen Lebenswelt der Betroffenen und nach zusätz-lichen Angeboten der Klinik mit dem Ziel, die Patienten noch intensiver auf die Zeit nach der Reha-Maßnahme und auf die Bewältigung der verbleibenden Probleme vorzubereiten.
Als Antwort ist das neue Schulungsprogramm „Ich bin aktiv!“ entwickelt worden, das darauf abzielt, bei den Rehabilitanden von Anfang an eine Ausweitung der Perspektive auf die Zeit nach der Entlassung aus der Klinik zu bewirken und die Weichen für ein möglichst aktives Leben zu stellen. Das Schulungsprogramm ist an das Modell „Rehabilitationsnachsorge – ein neues Credo für Rehabilitationskliniken“ angelehnt, das am Institut für Sozialmedizin des Uni-Klinikums Schleswig-Holstein entwickelt wurde (vgl. Deck, Hüppe & Arlt 2009). Das Programm des RKBS wendet sich an Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und versucht, in drei einstündigen Schulungseinheiten, eine positive Einstellung zu körperlicher Aktivität zu fördern und entsprechende Aktivitäten für die Zeit nach der Reha-Maßnahme zu planen und einzuleiten.
Um abschätzen zu können, ob der – wenn auch nicht sehr große – zusätzliche Aufwand für das Schulungsprogramm sich lohnt, ist eine Pilotstudie durchgeführt worden, von der wir v. a. eine Antwort auf die Frage erhofft haben, ob das neue Programm in die Routine des RKBS übernommen werden soll. Als Datenbasis standen folgende Erhebungen zur Verfügung:
- Befragungen mit neu entwickelten Kurzfragebögen bei einer Teilstichprobe der Schulungsteilnehmer (=105) zu den Erhebungszeitpunkten Reha-Beginn, Reha-Ende sowie nach 3 und 6 Monaten. Mit diesen Fragebögen sollten v. a. Einstellungen zur körperlichen Aktivität, Vorsätze für die Zeit nach der Reha-Maßnahme, Umsetzung solcher Vorsätze sowie Umsetzungshindernisse erfasst werden.
- Die Fragebögen „Indikatoren des Reha-Status (IRES-3)“ zu Reha-Beginn und Reha-Ende konnten für alle Schulungsteilnehmer der Jahre 2009 und 2010 (n=182) aus den routinemäßigen Erhebungen dieser Bögen im RKBS übernommen werden.
- Um die zusätzlichen Effekte des Schulungsprogramms einschätzen zu können, ist aus dem IRES-Datenpool des RKBS nach dem Verfahren von „matched pairs“ eine Kontrollgruppe von n=179 Patienten gebildet worden, die den Schulungsteilnehmern sowohl im Hinblick auf demographische Merkmale und Hauptdiagnose als auch auf die Belastungen zu Reha-Beginn möglichst gut entsprachen, jedoch nicht am Schulungsprogramm teilgenommen hatten.
- Zur Messung der mittel- bis langfristigen Effekte ist Mitte Februar 2011 der Fragebogen IRES-24, der um einige Zusatzfragen erweitert worden war, an alle Patienten der Schulungs- und der Kontrollgruppe verschickt worden. Da der IRES-24 aus dem IRES-3 extrahiert werden kann, standen für die Skalen des IRES-24 nicht nur die Werte aus der Nacherhebung, sondern auch die Werte zu Reha-Beginn und Reha-Ende zur Verfügung.
Die wichtigsten Ergebnisse der Auswertungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
- Die Kontrollgruppe entsprach zu Reha-Beginn in allen untersuchten Merkmalen der Schulungsgruppe ohne signifikante Unterschiede. Zu diesen Merkmalen gehörten Alters- und Geschlechtsverteilung, Familienstand, Erwerbstätigkeit, berufliche Stellung, wöchentliche Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit in den letzten 5 Jahren, soziale Schicht, sowie die Eingangsbelastungen auf allen acht Dimensionen des IRES-3.
- Bei den unmittelbaren Effekten zu Reha-Ende zeigten sich in der gesamten Studienstichprobe auf dem Summenscore des IRES-3 Verbesserungen, die als „starke Effekte“ zu interpretieren sind (Effektstärke SRM = 1,17). Nur 5% der Stichprobe haben sich in nennenswerter Weise (> -0,5 SRM) verschlechtert, während sich 60% um mehr als 1 Effektstärke verbessert haben.
- Beim Vergleich der unmittelbaren Effekte zwischen Schulungs- und Kontrollgruppe wiesen die Schulungsteilnehmer auf den meisten Dimensionen des IRES-3 leichte Vorteile gegenüber der Kontrollgruppe auf, die allerdings nicht statistisch signifikant wurden.
Hochsignifikante Unterschiede zugunsten der Schulungsgruppe gab es jedoch beim Summenscore des IRES-3 (hier summieren sich die leichten Vorteile der Schulungsgruppe zu einem signifikanten Vorsprung) sowie im Bereich „Krankheitsakzeptanz“ und v. a. auf der Dimension „Gesundheitsverhalten“. Diese Dimension enthält drei Einzelskalen, von denen die letzte das Thema „Umsetzung des Wissens über die Krankheit in alltägliches Verhalten“ anspricht. Bei dieser Frage ergab sich in der Schulungsgruppe eine drei Mal so hohe Verbesserung wie in der Kontrollgruppe (p < 0.000). Da das Schulungsprogramm genau auf dieses Thema einer Umsetzung des Wissens in alltägliches Verhalten abzielte, zeigte sich hier am Ende der Reha-Maßnahme ein deutlicher zusätzlicher Effekt des Schulungsprogramms. - Bei der Nacherhebung im Februar 2011 lag die Reha-Maßnahme der Befragten zwischen 5 und 22 Monaten zurück; die Rücklaufquote betrug ca. 50%. Beim Vergleich der Veränderung der Katamnese- gegenüber den Aufnahmewerten zwischen Schulungsteilnehmern und Kontrollgruppe erzielten die Schulungsteilnehmer auf fast allen Skalen etwas höhere Verbesserungen, die aber nicht das Ausmaß statistischer Signifikanz erreichten. Auf der Skala „Bewegungsverhalten“ war dieser Vorsprung am deutlichsten ausgeprägt und wurde nur äußerst knapp nicht signifikant (p = .053). Bei dieser Datenlage ist es jedoch gerechtfertigt, bei den IBA-Patienten auch 1-2 Jahre nach der Reha-Maßnahme eine „Tendenz“ zu besserem Bewegungsverhalten gegenüber der Kontrollgruppe zu konstatieren.
Aus diesen Ergebnissen haben wir die Konsequenz gezogen, dass der Schulungsaufwand sich lohnt, und haben das Programm „Ich bin aktiv!“ in die Routine des RKBS übernommen.